Waldorfpädagogik in Asien als Bindeglied gegensätzlicher Kulturen
Bericht von Stephan Knauer, Waldorfpädagoge
Rund um die Erde entstehen jedes Jahr neue Waldorfschulen. Von den Trägern der jungen Initiativen auf verschiedenen Kontinenten wird immer wieder der Wunsch geäußert, von der fast hundertjährigen Erfahrung der deutschen Waldorfbewegung zu lernen. So werden Lehrer und Dozenten eingeladen, in diesen Ländern bei der Entwicklung der Schulen und bei der Ausbildung der Lehrer zu helfen.Wer eine solche Einladung annimmt, muss sich natürlich die Frage stellen, wie die sehr mitteleuropäisch und christlich geprägte Praxis unserer Pädagogik in einem Kulturkreis wie beispielsweise Asien in die Kultur, Tradition und Gesellschaft überhaupt sinnvoll integrierbar sei. Ich durfte in Korea und Taiwan feststellen, dass es sehr wohl eine gemeinsame Arbeitsgrundlage gibt – jenseits jeder Religion und Prägung. Diese besteht im Gedanken der Einzigartigkeit jedes Menschen und dem uneingeschränkte Respekt vor jeder Individualität.
Andererseits wurde – von Ostasien nach Mitteleuropa blickend – deutlich, dass einige Ausgestaltungen der Waldorfschulen nicht mehr lebendig und gegenwärtig aus der Menschenkunde Rudolf Steiners geschöpft werden, sondern bereits folkloristische Züge haben, unreflektierte Traditionen geworden sind oder sich zu typischen und unverzichtbaren „Markenzeichen“ entwickelt haben. Auch in Asien gibt es Schulen, die solche Elemente zunächst eifrig einfach kopierten, ohne dass sie verstanden wurden oder gar ein Teil der dortigen Kultur werden konnten. Es besteht jedoch eine große Bereitschaft, aus den Grundgedanken der Menschenkunde immer wieder neue Ideen zu entwickeln, die sich unmittelbar mit den Menschen und Kulturen verknüpfen lassen. Die Hinwendung an jeden einzelnen Schüler als einen werdenden Menschen hat sich überall als eine fruchtbare Grundlage erwiesen. Auch der von Rudolf Steiner angeregte Grundsatz, jeder Versuch einer Erziehung in der Konsequenz nur die Selbsterziehung sei, wurde von den Pädagogen in Asien nachhaltig verstanden. So hat sich auch für mich die Überzeugung gefestigt, dass Waldorfpädagogik weltweit möglich ist und darüber hinaus ein wichtiges Bindeglied sein kann wenn es darum geht, gegensätzliche Religionen und Kulturen zu vereinen.
Zwei Beispiele aus Südostasien:
Es ist bekannt, dass Südkorea in PISA-Studien stets exzellent abgeschnitten hat. Dem Bildungsministerium war aber auch die Not der Schüler bewusst und somit klar, dass großer Bedarf für eine menschengemäße Pädagogik bestand. Man fand, diese sei in Deutschland insbesondere bei den Waldorfschulen verwirklicht. So wurden Sachverständige aus Hamburg gebeten, die Initiative des Bildungsministeriums zu unterstützen, das den Versuch wagen wollte, in einem Bundesland Grundschulen in Waldorfschulen zu verwandeln.
Bei der Arbeit an der Verwandlung einer normalen Grundschule in eine Waldorfschule durften wir neben einer faszinierenden Kultur engagierte und begeisterte Kollegen kennen lernen. Sicher wurden nicht alle Fragen gelöst und es mussten Kompromisse hingenommen werden, dennoch blieb die Gewissheit, dass viele Anregungen und Inspirationen dauerhaft im Bildungssystem integriert sind.
Auch in Taiwan entstanden neben den privaten Waldorfschulen viele Initiativen innerhalb des staatlichen Systems, die versuchen, Waldorfpädagogik zu integrieren und konsequent umzusetzen. Es besteht hier seit vielen Jahren eine intensive Zusammenarbeit zwischen deutschen Waldorflehrerseminaren und der größten pädagogischen Universität im Lande, so dass die Waldorflehrerausbildung eine gewisse Selbstverständlichkeit erreicht hat und zudem einen sehr guten Ruf genießt. Da private Beschulung – sogenanntes homeschooling – in Taiwan nicht erlaubt ist, haben sich viele kleine Waldorfschulen gebildet, die von den staatlichen Einrichtungen und der Öffentlichkeit zwar skeptisch, aber auch mit viel Sympathie begleitet werden. Ein Beispiel dafür ist eine in den Bergen liegende Schule. Als diese aufgrund ihrer ländlichen Lage durch Schülermangel einzugehen drohte, wurde sie von staatlicher Seite her aufgefordert, sich in eine Waldorfschule zu verwandeln. Seitdem dies geschah, nehmen Eltern weite Wege in Kauf oder ziehen während der Woche in nahegelegene Wohnanlagen, um ihren Kindern diese Pädagogik zu ermöglichen.
Wir konnten uns davon überzeugen, dass kaum Kompromisse in der pädagogischen Ausrichtung gemacht werden. Die Lehrer arbeiten intensiv an anthroposophischen Grundlagen; dadurch gelingt es in beeindruckender Weise, Waldorf-Elemente erfolgreich mit der chinesischen Kultur und Tradition zu verbinden. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass die taiwanesische Waldorfschulbewegung immer weniger Hilfe aus Europa benötigen wird, da sie bereits jetzt viele waldorfgemäße Elemente eigenständig entwickelt hat. So werden in Zukunft eher kollegiale Treffen und ein lebendiger Erfahrungsaustausch stattfinden – vielleicht auch auf Basis eines Schüleraustauschs.
Statistische Zahlen
Stand Februar 2020 (im Vergleich dazu Mai 2017): Quelle: Bund der Freien Waldorfschulen
Schulen in Deutschland: 254 (242)
Schüler in Deutschland: 89712 (87.000)
Schulen in Europa (ohne Deutschland): (559) 496
Schulen außerhalb Europas: 379 (351)
Schulen weltweit: 1187 (1.097)
Waldorfkindergärten weltweit: über 1.900