Von der Kunst, ein Mensch zu werden
Ein Künstler steht vor einer weißen Leinwand. Er greift zum Pinsel und beginnt zu malen. Erst zaghaft zeigen sich einzelne Farbflächen, er sucht. Es ist noch kein Motiv zu erkennen.
Wie kann er seine Idee zum Ausdruck bringen?
Eine schwer kranke Patientin liegt in ihrem Bett im Krankenhaus. Sie hat Schmerzen. Ihre Gedanken kreisen. Wie soll sie ihrem Mann mitteilen, dass sie keine Chemotherapie mehr haben will?
Er lässt sich von den Farben leiten – ja, gelb wäre jetzt gut. Langsam gelingt es ihm, in den Prozess zu kommen. Er taucht ein ins Geschehen, seine Hände gestalten und er vergisst alles um sich herum.
Wie war das damals, als sie sich kennenlernten? Es war das sichere Gefühl zusammen zu
gehören. Sie hatten viele Jahre gemeinsam verbracht. Es gab Höhen und Tiefen – nichts davon möchte sie missen.
Plötzlich hört er auf. Er kommt zu sich. Er tritt zurück und betrachtet sein Bild. Es ist ein Anfang … aber die Stelle dort rechts gefällt ihm nicht – das habe ich doch schon hundertmal gemacht …
Es klopft an der Tür. Ihr Mann betritt das Zimmer. „Ich habe dir gelbe Rosen mitgebracht, die magst du doch so gerne.“ Sie lächelt. „Ich habe mir überlegt, dass wir im Sommer nach Rügen fahren könnten – da wollten wir doch noch einmal hin.“ Sie schweigt. „Hast du Schmerzen? Nach der Therapie wird sicher alles besser.“
Immer kommen wir an Grenzen.
Der Künstler will etwas Neues schaffen – was ihm jedoch zunächst entgegenkommt, ist Alt–bekanntes. Wie kann er zu etwas Neuem, Zukünftigen finden?
Die Patientin bemerkt, dass sie sich auf ihr Lebensende einlassen will, doch wie sagt sie es ihrem Mann? Und wie geht es ihrem Ehemann, der noch Pläne schmiedet?
Was könnte für diese drei Menschen der nächste Schritt sein? Wie könnten sie diese schmerzhaften Grenzen überwinden?
Der Künstler könnte die unliebsame Stelle übermalen. Aber früher oder später würde ihm genau diese Gewohnheit aufs Neue begegnen. Die Patientin könnte mit ihrem Mann Reisepläne schmieden, aber früher oder später würde sich herausstellen, dass es nicht mehr geht. Der Ehemann könnte sich beim Arzt beschweren, dass seine Frau so leiden muss.
Wir haben die Möglichkeit, den Dingen auszuweichen, die uns entgegen kommen. Eine Zeit lang – das Schicksal ist mitunter sehr geduldig.
Aber wir haben auch die Möglichkeit, unser Schicksal in die Hand zu nehmen, zu gestalten. Die kleinen und großen Schmerzen führen uns an unsere Grenzen. Sie machen uns bewusst, dass sich etwas ändern muss. Aber wie? Wie kann das Alte überwunden werden? Übertünchen klappt nicht, verdrängen nützt nichts, es verteufeln hilft nicht, jemand Anderem die Schuld dafür geben ist auch keine Lösung.
Das Schicksal bremst uns aus. „Halt!“ ist die erste Botschaft. „Halte ein und schau mich an! Ja, so sieht es aus.“ Und das ist der schwerste Schritt. Die Dinge anzuschauen und anzunehmen, so wie sie sind. Sie zu bejahen, so wie sie sind.
Wenn uns dieser kleine Schritt gelingt, kommen wir uns selbst ein kleines Stückchen näher,unserem eigenen Schicksal, unserer Individualität. Wir begegnen uns selbst. Und das Besondere an diesem „kleinen“ Schritt des Annehmens ist, dass sich durch ihn schon die erste kleine Verwandlung vollzieht.
Wir nehmen neu wahr!
Die Wahrnehmung eröffnet neue Fragen und die Fragen sind die Schlüssel für die neuen Türen,die wir dann öffnen können, um zukünftige Wege zu begehen.
Also, was könnte unser Künstler tun? Vielleicht lässt er das Bild erst einmal so stehen und schläft eine Nacht darüber. Und am nächsten Tag hat er ein wenig Abstand gewonnen und entdeckt in der „unliebsamen alten Stelle“ einen kleinen Impuls für einen nächsten Schritt?
Und die Patientin? Was könnte sie ihrem Mann sagen? Vielleicht so: „setz dich doch ein Stück näher zu mir. Kannst du meine Hand halten? …“ Vielleicht würde ihr Mann ankommen können und sie fragen, weshalb sie ihn so anschaut…?
Unser Ich braucht den Widerstand, die Grenzen, die Schmerzen, das Leid, um sich daran zu entwickeln. Wenn alles immer glatt liefe, gäbe es doch keinen Anlass, etwas zu verändern, keine Chance sich zu entwickeln. Keine Chance für neue Fragen, keine neuen Wege – keine Zukunft!?
Mechthild Breme, Schwerin
Bildhauerin, Praxis für Anthroposophische Kunsttherapie (BVAKT) und Biografiearbeit, tätig in
der Palliativmedizin, Onkologie und Multimodalen Schmerztherapie (Helios-Klinik) und im
Hospiz, Dozentin am Bernard-Lievegoed-Institut, Hamburg für die Weiterbildung „Coaching und
Biografiearbeit“
2 Comments
Biomedis
Could you share more about how individuals can cultivate a heightened awareness of their experiences and surroundings for personal development?
Gudrun Hatlapa
please contakt the Freies Jugendseminar direcly: https://www.jugendseminar.de/