Die Ulme – der Merkurbaum
Artikel von Michael Knöbel aus „Seminarbrief 7“ – mit freundlicher Genehmigung des Autors
Viele europäische Landschaften waren früher von mächtigen Ulmen (römischer Name für Rüster) geprägt. Bereits im frühen Mittelalter wurde sie bewusst als Schatten- oder Straßenbaum gepflanzt und war so bekannt und verbreitet wie die Linde. In der Hansestadt Hamburg begrünte sie zusammen mit der Linde die Wallanlagen der Stadtbefestigung. Vielen Städten gab sie auch den Namen, wie zum Beispiel Ulm oder Ilmenau.
In ihren drei heimischen Arten, der Flatterulme (Ulmus laevis, siehe Abb.), der Feldulme (Ulmus campestris) und der Bergulme (Ulmus montana) wächst sie in Niederungsgebieten, Auwäldern und Schluchtwäldern und bevorzugt feuchte, gelegentlich überschwemmte nährstoff- und basenreiche Böden, die sie tief durchwurzelt. Die weitausladenden Kronen bestehen aus trichterartigen filigranen Fächern langer Äste, die in dichten Verzweigungen das obere Drittel der Bäume bilden. Der Engländer William Gilpin, der Ende des 18. Jahrhunderts über die Ästhetik der Bäume schrieb, meinte: „Kein Baum ist besser geeignet, große Lichtmengen aufzunehmen“. Meist unbemerkt, im zeitigen Frühjahr, entwickeln sie vor dem Laubaustrieb ihre kleinen, rötlichen Blütenbüschel, aus denen sich die Früchte mit einem hellgrünen breiten und runden Flügelrand entwickeln. Leicht könnte man die Früchte für Blätter halten, aber diese entstehen in tiefem Dunkelgrün oft erst nach ihrer Reife!
Bemerkenswert und für alle Ulmen typisch ist die Gestalt der Blätter! Jedes Blatt fügt sich aus einer kleineren und einer größeren Hälfte zusammen. An der Spitze ist die eiförmige, oft doppelt gesägte Form zugespitzt und symmetrisch, jedoch am Blattgrund greift die größere Fläche viel tiefer am Blattstiel herab und buchtet sich herzförmig aus, um mit der kleineren Hälfte zusammenzulaufen. Wie aus zwei Gegensätzen scheint das Blatt zu einer harmonischen Gesamtform komponiert, und hier liegt wohl der Schlüssel zu dem Charakter der Ulme! Vergleichen wir das Ulmenblatt mit Blättern anderer Gattungen, so offenbart sich die Besonderheit umso mehr: Die Erdverbundenheit der Eiche mit ihrem mächtigen rissigen Stamm, der dichten und dunklen, oft zerzausten Krone und der tiefen Verwurzelung zeigt sich auch in der Blattform: kräftig, eigensinnig, aber asymmetrisch buchtet sich die Fläche nach außen, an der Spitze scheint die Ausbreitung mächtig gestaucht! Dagegen sind die langgestielten Birkenblätter fein doppeltgesägt, die Blattspitzen weisen weit in die Umgebung und der ganze Baum ist mit seiner flachen Verwurzelung, dem leuchtenden glatten und elastischen Stamm, dem dünnen im Wind bewegten Zweigwerk und den winzigen, geflügelten Früchten ganz ein Bild des Umkreises. Diese „Eigenraumbildung“ der Eiche und die „Umkreisoffenheit“ der Birke scheinen in der /Ulme vereint, allerdings wird das Gleichgewicht zwischen innen und außen ganz anders errungen, als es uns im gleichmäßigen Blatt der Rotbuche in Erscheinung tritt. Bei der Ulme durchdringen sich die Gegensätze und dadurch werden sie wie miteinander verwoben: nicht Gleichgewicht der Kräfte und Grenzbildung, sondern Ausgleich durch Vermittlung der Pole!
Während das Prinzip des Ausdauernden, Verfestigenden, ja Verhärtenden früher als „Sal“ bezeichnet wurde und sich im Wachstum der Eiche besonders zeigt, war das Leichte, Sich-Verflüchtigende, Auflösende das Prinzip des „Sulfur“, wie es auch in der Birke erkennbar wird. Zwischen diesen Prinzipien vermittelt „Merkur“! Durch harmonischen, rhythmischen Ausgleich zwischen Verdichtung und Verflüchtigung werden Absonderungen wieder in den Fluss gebracht. Dies ist das Ulmenprinzip! Irdisches und Kosmisches werden verbunden, dies ist auch das Prinzip jeder Gesundung und Heilung.
Umso bedrückender mag es erscheinen, dass nahezu 90% des Ulmenbestandes durch das sogenannte Ulmensterben einging und ein Ende dieser Epidemie noch nicht abzusehen ist. Dennoch weist uns die Signatur der Ulme auf Künftiges. Der Weg der Vermittlung zwischen unterschiedlichen Völkern und Kulturen, verschiedenen Gesellschaftsschichten und Generationen, zwischen Eltern und Kindern und in Partnerschaften scheint Hauptaufgabe unserer Zeit. Dies kann nur gelingen, wenn Gegensätze in einen Ausgleich treten, ohne sich gegenseitig auszulöschen. Dafür mag die Ulme ein Bild sein.
Im von Rudolf Steiner gestalteten ersten Goetheanum bestand die fünfte der Planetensäulen in der großen Kuppel aus Rüster. Aus den umgestalteten Kapitelmotiven (Abb. rechts) entstanden die Vignettenformen der Planetensiegel (Abb. unten). Siebenfach stellt das fünfte den Merkurstab dar, der nicht nur als Symbol des Handels, sondern auch als Attribut das Arztes Äskulap gilt.
Die den Stab umspielende quecksilbrige Bewegung ist wie das Wachsen des Pflanzenstengels und des Ansatzes der Blätter längs des Stengels. Die steigende und sich steigernde Bewegung ist auch ein Ausdruck der Entwicklung im menschlichen Leben.
Im fünften Siegel wird gegenüber allen anderen Zeichen der Schritt gemacht zur Selbsterziehung, moralischen Phantasie, Imagination. Der Merkurstab wird zum Zauberstab, er lockt die Geheimnisse der Tonwelt hervor, er zaubert Märchenbilder vor die Seele, er öffnet an Hand des Götterboten Merkur Wege in die geistige Welt… Denken, Fühlen, Wollen werden eurythmisch gestaltet in geraden, gebogen-geraden und gebogenen Wegen. Im Merkur-Motiv haben wir den geraden Weg im Stab und in den Schlangen die willentlich dynamische Bewegung. Der Schlangenstab wird zum Zeichen für das faustische Ringen und Streben „in der werdenden Weisheit“. (Carl Kemper, Der Bau – Studien zur Architektur und Plastik des ersten Goetheanum, Dornach 1984).
Michael Knöbel ist Dozent am Seminar für Waldorfpädagogik Hamburg