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Gesundheit

Gedanken zur Zahnheilkunde

Nüchterne Betrachungen zur Auseinandersetzung um die Tabletten-Fluoridierung
Kinderärzte und Zahnärzte: Wie könnten sie besser zusammenarbeiten?

von Dr. Rudolf Völker, Zahnarzt, Hamburg

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„Es besteht kein Zweifel, dass Fluor das wesentliche Element ist, das dem Zahn, besonders dem Schmelz, aber auch dem Knochen seine Härte verleiht. Deshalb glaubt man heute „gesunde Zähne“ durch Verabreichung von Fluorpräparaten erreichen zu können. Hierüber existiert eine nicht mehr überschaubare Literatur, die jedoch gegensätzliche Ergebnisse aufweist. Oft ist eine Beurteilung nicht möglich, da die Auseinandersetzungen pro und contra Fluoridierung bzw. Fluorprophylaxe vielfach emotionell überlagert sind. Nur ein Problem sei erwähnt: Härte bedeutet noch nicht Güte! Bekanntlich ist eine Substanz umso brüchiger, je härter sie ist. Das Problem der Zahnbildung ist nicht auf eine einzige Substanz zu reduzieren, sondern ein komplexes Geschehen.“
(Dr. Otto Wolff)

Aus der schier unüberschaubaren Fülle der vorliegenden Informationen zum Thema „Fluoride in der Prophylaxe“ soll dieser Artikel eine aktuelle Übersicht über den derzeitigen Stand der Diskussion vermitteln und den Leser befähigen, sich trotz widersprüchlicher Aussagen zum Thema eine eigene Meinung zu bilden. Wenn Sie den Artikel lesen, wissen Sie…

– dass Kinderärzte und Zahnärzte oft unterschiedlicher Ansicht über die Tabletten-Fluoridierung sind
– warum diese Meinungsunterschiede entstanden sind und wie man sie für sich und seine Kinder auflösen kann
– warum das Pro und Contra zum Thema „Fluoride“ in der Vergangenheit so unüberbrückbar schien
– wie das Thema untrennbar mit dem Thema „Zucker und Ernährung“ zusammen hängt
– warum Sie nichts „falsch“ machen können, wenn Sie sich einmal richtig informiert und entschieden haben.

 

Fluor polarisiert

Merkblatt FluorSeit 2012 existiert ein Merkblatt der GAÄD zum Thema „Fluor für die Zähne?“ (rechts auf das Bild klicken), in dem eine konsensuale Stellungnahme von anthroposophisch orientierten Kinder- und Zahnärzten zum Thema Fluorid-Prophylaxe erarbeitet wurde.

Bemerkenswerterweise ist ein solches konsensuales Vorgehen den mit dieser Frage befassten Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin e.V., Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, Deutsche Gesellschaft für Ernährung) bereits seit über einem Jahrzehnt nicht mehr möglich.  So können die aktuell vorliegenden Forschungsergebnisse zum Thema weder zusammengeführt noch die gewonnenen Erkenntnisse in einer gemeinsam getragenen Stellungnahme den betroffenen Eltern, Hebammen und Kindergärten zur Verfügung gestellt werden. Seit 2013 existiert sogar eine gemeinsame Leitlinie „Fluoridierungsmaßnahmen zur Kariesprophylaxe“ (http://www.dgzmk.de/uploads/tx_szdgzmkdocuments/LLFluoridierungLangUpdate2013.pdf ), die für Kinder bis zu fünf Jahren ganz offiziell eine getrennte kinderärztliche und eine zahnärztliche Empfehlung mit diametral unterschiedlichen Schlussfolgerungen in die Welt stellt, was Patienten,  verantwortliche Eltern und Betreuer natürlich zwischen alle Stühle setzt und das Vertrauen in die Weisheit ärztlicher Ratschläge insgesamt in Frage stellt. Fotolia 109327487 SEs nützt auch nichts, die Verantwortung an der entstandenen Situation der jeweils anderen Seite zuzuschieben: Es entsteht der von der Öffentlichkeit lebhaft zur Kenntnis genommene, unhaltbare Zustand, dass Mütter in der Geburtsklinik oder beim Kinderarzt Fluoridtabletten rezeptiert bekommen, die ihnen beim Zahnarzt, wenn er der Empfehlung seiner Fachgesellschaft folgt, wieder ausgeredet werden.

 

Bei einem von einem Zahnarzt geschriebenen Artikel sollte man erwarten, dass die Antwort auf die zwar provokante, aber direkt aus dem Leben gegriffene Frage in der Überschrift eindeutig ausfällt und er der zahnärztlichen Version das Wort redet. Nur: Selten ist das bloße „Recht-haben-wollen“ im Leben ein guter Ratgeber.

Daher wollen wir uns in einer für Eltern, Hebammen und Kindergärtner/innen immer wieder verwirrenden Frage an dieser Stelle etwas Mühe geben und die Hintergründe einmal intensiv beleuchten: Wie kommt es eigentlich, dass auf Säuglings-Stationen und in Kinderarzt-Praxen Rezepte für Fluorid-Tabletten ausgestellt werden – und Mütter dann zu ihrer Überraschung von Zahnärztinnen und Zahnärzten oft die Meinung hören, das sei heute nicht mehr zeitgemäß? Und wie kann man sich in diesem Widerspruch verhalten und ihn auflösen?

In den Praxen, Eltern-Diskussionen und Internet-Foren sorgt die offensichtliche Uneinigkeit zwischen Kinder- und Zahnärzten regelmäßig für Verwirrung, Unruhe und Zweifel an der Güte ärztlicher Ratschläge: „Wenn die sich schon nicht einig sind…“. Und es ist ja auch wirklich schwer zu verstehen, warum sich wissenschaftliche Fachgesellschaften in einer vergleichsweise einfachen Frage seit Jahren höchst offiziell nicht einig werden können! Aber es kommt noch schlimmer: Die wirkliche Verwirrung erfährt jeder – ob nun Patient oder Arzt – wenn er versucht, sich in dieser Frage selbst eine eigene Meinung zu bilden: Die „Fakten“ zum Thema Fluoride sind höchst widersprüchlich – und gerade das Internet bietet neben wissenschaftlich seriösen Aussagen oberflächliche Unwissenschaftlichkeiten bis hin zu geradezu grotesken Verschwörungstheorien. Wer soll denn da den Überblick behalten? Und wem kann, wem soll man glauben? Jeder, der hier versucht, eine verbindliche Antwort zu geben, läuft Gefahr, von einer anderen Seite sofort als „unseriös“ widerlegt zu werden. Warum ist das so? Warum spaltet das Thema „Fluoride“ derartig?

„Fluor“ spaltet und provoziert

Während es in der Auseinandersetzung zwischen den Fachgesellschaften der Kinderärzte und der Zahnärzte heute um letzten Endes nur noch vergleichsweise geringe Meinungsunterschiede geht (wir werden das weiter unten zeigen), wird der Kampf um die Fluoridierung zum Zwecke der flächendeckenden Zahnerhaltung bereits seit Jahrzehnten in einer derart polarisierenden Weise geführt, dass die Wissenschaft oftmals nur als Statist und Lieferant von (Pseudo-)Argumenten für in Wahrheit politisch oder ideologisch vorgegebene Grundpositionen erscheint. Diese Feststellung gilt gleichermaßen für alle Seiten in der Auseinandersetzung: Weder sind Fluoride zur Entsorgung in Zahnpasten verpackte „Abfallprodukte der chemischen Industrie“, noch sind sie der „einzig mögliche Garant für gesunde Zähne“. Weder die systemische Fluoridierung durch Tabletten im Kleinkindalter (wie sie nach dem Rückzug der Zahnärzte inzwischen nur noch von den kinderärztlichen Fachgesellschaften propagiert wird) noch die lokale Fluoridierung durch Zahnpasten und Gele sind letztlich unverzichtbar. Fakt ist aber auch, dass eine Gesellschaft, die sich überwiegend mit industriell hergestellten Nahrungsmitteln versorgt und dabei auf einen unnatürlich hohen Konsum von Zucker und Zuckerzusätzen nicht verzichten kann oder will, einen effektiven Kariesschutz benötigt. Große Fortschritte hat es in dieser Schutzfrage durch die Verbesserung der häuslichen und zahnärztlichen Prophylaxe (Mundhygiene, Zahnreinigung) gegeben! Aber nicht alle Bevölkerungsschichten wurden von diesem Fortschritt der letzten 25 Jahre erreicht. Wer also verantwortungsbewußt  mit der Frage eines effektiven Karies-Schutzes umgehen will, muss sich zumindest einmal sehr grundsätzliche Gedanken zu diesem Thema machen! Das soll hier geschehen.

Konsens und Meinungsunterschied: der aktuelle Stand

Der hartnäckige Streit der Hochschullehrer und ihrer Fachgesellschaften (trotz oder gerade aufgrund vieler persönlicher Treffen und Konsensus-Konferenzen) entzündet sich nicht an der Frage „Fluoridprophylaxe – Ja oder Nein?“, sondern er lässt sich heute reduzieren auf die Frage, ob Fluoride im frühkindlichen Alter (also vor Beginn des fünften Lebensjahres, wenn das Kind noch nicht vollständig ausspucken kann) in Form von Fluorid-Tabletten (kombinierte Vitamin D/Fluoridprophylaxe) gegeben werden (Empfehlung der Kinderärzte) oder ob auf die systemische Wirkung der Fluoride komplett verzichtet werden kann und sollte, und der lokalen Anwendung geringster Mengen fluoridhaltiger Zahnpasten (als Ergänzung der mechanischen Plaque-Entfernung durch das Zähneputzen) Vorrang gebührt. (Empfehlung der Zahnärzte).

Die Brisanz der widersprüchlichen Empfehlung liegt unter anderem darin begründet, dass es bei gleichzeitiger Anwendung beider Methoden zu einer Überdosierung von Fluoriden mit Zahnfluorosen (Flecken auf den Zähnen) kommen kann.

Verzichtet man hingegen alternativlos auf beide Methoden (sei es aus Überzeugung oder Resignation), läuft man allerdings Gefahr, dass die frühkindliche Karies sich wieder ausbreitet, so wie früher, als Kinder eben neben Husten, Schnupfen, Heiserkeit auch Karies hatten. Gerade ärmere Familien haben hier häufig das Nachsehen: In vielen Fällen können sozial und finanziell schlechter gestellte Familien weder bei der Vorsorge noch bei den Behandlungsmöglichkeiten mithalten. Wer daher auf hilfreiche Prophylaxe-Maßnahmen aus ideologischen Gründen verzichtet, hat sich noch nicht ausreichend mit dem enormen Leidensdruck auseinander gesetzt, der entsteht, wenn Kleinkinder – sei es durch mangelnde elterliche Fürsorge oder durch nicht altersgerechte zahnmedizinische Methoden – frühzeitig in schwer zu behandelnde Erkrankungs-Situationen geraten: mit Angstzuständen, Schmerz, akuter und chronischer Entzündung und geradezu regelhafter frühzeitiger Organamputation (Zahnverlust).

Was also tun?

Glücklicherweise liegen die Positionen heute nicht mehr weit auseinander, wenn auch nach einem Kampf mit harten Bandagen, in dem den Kinderärzten in Deutschland aus höchstem zahnärztlichem Munde wissenschaftliche Rückständigkeit und internationale Isolation bescheinigt wurde, während die Kinderärzte nicht minder phantasievoll schrieben, die „Empfehlung der Zahnärzteschaft, dieser sensiblen Altersgruppe regelmäßig kosmetische Mittel zu essen zu geben, ist im Interesse der Säuglinge und Kleinkinder nicht hinnehmbar“ und ohnedies handelten die Zahnärzte „unverantwortlich“, seien „im Umgang mit dieser Altersgruppe nicht ausgebildet“ und würden durch ihren „einseitigen Ausstieg“ aus der bewährten Kombination von Fluorid- und Vitamin D-Supplement zu „einem nicht zu vertretenden Risiko für die Vitamin-D-Prophylaxe führen“. Die immer noch anhaltenden Schwierigkeiten in der Auflösung dieser Auseinandersetzung sind ohne diese langjährig fortwährende Abkanzelung der jeweiligen Gegenseite kaum nachzuvollziehen. Man ist nicht ganz weltfremd, wenn man hier eine alte Rivalität zwischen Schwesterdisziplinen vermutet. Immerhin: 2015 hat eine sächsische Arbeitsgruppe aus Ärzten und Zahnärzten den offiziellen Widerspruch über die Fluoridierung auf die ersten zwei Lebensjahre minimiert und klargestellt, um was es im Kern geht: Während die Kinderärzte die herkömmliche kombinierte Fluorid-/Vitamin-D-Prophylaxe erhalten wollen (die Fluoridtablette enthält dabei 500.I.E. Vitamin D), weisen die Zahnärzte darauf hin, dass es auch fluoridfreie Vitamin-D-Tabletten gibt und eine lokale Fluoridierung wirksamer und besser ist.

Fotolia 69278416 SIn Mönchengladbach hat die Unzufriedenheit der niedergelassenen Ärzte und Zahnärzte mit den sich widersprechenden, also un-sinnigen Empfehlungen der jeweiligen Berufsverbände zu einem gemeinsamen Aktionsbündnis der betroffenen Kollegen geführt (Zahnärzte Initiative Mönchengladbach ZIM bzw. ZIMKid).
Auf einer ersten Veranstaltung im Jahre 2008 mit dem Thema „Das Fluorid-Konzept – Prophylaxe ist mehr als Fluoridierung“ unter der Leitung von Prof. Attin (Zürich) wurde noch emotional und intensiv miteinander diskutiert. In der Folge verordnen nun aber alle Geburtskliniken sowie alle Kinder- und Jugendärzte der Stadt keine Fluoridtabletten mehr, informieren die Eltern in der ärztlichen Vorsorge-Untersuchung im sechsten Lebensmonat über die frühkindliche Karies und lassen lokale Betreuungs- und Fluoridierungsmaßnahmen in den Zahnarztpraxen durchführen, was zu messbaren Erfolgen in der Kariesfreiheit der Kinder führte: Zwei Jahre nach Start der Aktion im Jahre 2008 hatten statt zuvor 60% der Kinder im Kindergartenalter 70% primär kariesfreie Gebisse, heute sind es 75%. Die Einbeziehung der Lehrkräfte an Förderschulen konnte durch lokale Prophylaxe-Maßnahmen die Karieserfahrung der besonders gefährdeten Förderschüler ebenfalls deutlich reduzieren.

 

Rückblick

Gegen die früheren Debatten um das Pro und Contra der Fluoride nehmen sich die heutigen Auseinandersetzungen harmlos aus. Zahnärzte, die es sich erlaubten, eine andere Meinung zum Thema Fluoride zu haben als die offiziellen Empfehlungen, hatten damals ernsthafte Probleme, auch wenn wir heute wissen, dass zum Beispiel die Gabe von Fluorid-Tabletten an Schwangere, wie es früher propagiert wurde, vollkommen nutzlos ist.

Um den bis heute im Internet tobenden Kampf der früheren Jahre besser zu verstehen, muss man die geschichtlichen Hintergründe der Fluoridierung, insbesondere der Trinkwasser-Fluoridierung beleuchten, die in den USA damals als flächendeckender Karies-Schutz eingeführt werden sollte – und von ihren Gegnern als perfides Werkzeug zur Massenverdummung und -vergiftung verteufelt wurde. In Kontinental-Europa wurde die Trinkwasser-Fluoridierung aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse heute praktisch aufgegeben. In der Debatte zu Zeiten der McCarthy-Ära mitten im Kalten Krieg der fünfziger Jahre hatte diese Frage hingegen eine politische Dimension, die sich in erster Linie am Freund-Feind-Denken der damaligen Zeit ausrichtete. Die zahnmedizinischen Standesorganisationen in Amerika sahen diese Diskussion als Möglichkeit, sich ein eigenes berufspolitisches Profil zu verschaffen und sich mit einem eigenen Thema zu emanzipieren. Die durch den Nationalsozialismus und die anschließende internationale Ächtung ins Abseits geratene deutsche (Zahn)Medizin wiederum hatte durch den Anschluss an den Mainstream der amerikanischen Vorgaben Gelegenheit, sich wieder aus der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Isolierung Deutschlands zu befreien und in die internationale Gemeinschaft zurück zu kehren. Argumente und Fakten wurden auf beiden Seiten der Diskussion, Pro und Contra Fluoride, gebogen und in den Dienst der eigenen Vor-Urteile und Interessen gestellt.

Wer hinter den Fluoridierungs-Kampagnen früherer und heutiger Zeiten unbedingt eine „Verschwörung“ wittern möchte, wird am ehesten in der Realität landen, wenn er sein Augenmerk auf die Zuckerindustrie richtet: Der deutsche „Informationskreis Mundhygiene und Ernährungsverhalten“ (IME) wurde, so steht es wörtlich auf seiner Webseite, „1977 mit dem Ziel gegründet, auf Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse über Zahngesundheit, Kariesprophylaxe und Ernährungsverhalten zu informieren. Zu diesem Zweck unterhält der IME ein ständig aktualisiertes, wissenschaftliches Archiv und pflegt Kontakte zu führenden Professoren der Zahnmedizin und Ernährungswissenschaft an deutschen Universitäten und Hochschulen. Dem IME gehören Verbände der deutschen Lebensmittelwirtschaft an“.
Der IME ist also – nach Begründung durch die Zuckerindustrie  – der deutsche Ableger weltweit intensiver Bemühungen um den Einfluss auf die Wissenschaft aus Gründen der Absatzsicherung für Zucker auf hohem Niveau, oft jenseits vernünftiger und gesundheitsbewusster Empfehlungen. Wer gegen einen harten Gegner arbeiten möchte, dem sei die Recherche des Zusammenhanges zwischen Zuckerindustrie und Fluoridierung empfohlen: Zucker findet sich in fast allen industriell verarbeiteten Lebensmitteln (auch solchen, die nicht „süß“ wirken). Und Zucker hat weit größere Auswirkungen auf die Gesundheit als nur die Zahnzerstörung. Insofern ist die Frage um die Gesundheits-Schädigung durch Fluoride tatsächlich zweitrangig: Sie arbeiten der Zahnzerstörung entgegen. Ein Verzicht auf Fluoride setzt ein echtes Umlenken der Ernährung voraus.

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Völlig unsinnig ist hingegen die beständig wiederholte Behauptung,  Fluoride in Zahnpasten dienten der preisgünstigen Entsorgung hochgiftiger und anders nicht problemlos zu entsorgender Abfälle der Aluminium- und Stahl- (wahlweise auch der Atom-)Industrie. Schon eine einfache Überschlagsrechnung entkräftet diese hartnäckig weitergegebene Behauptung: Bei einer durchschnittlichen Dosis von 100 mg Fluorid pro Zahnpasta-Tube und einem tatsächlichen Pro-Kopf-Verbrauch von 5 Tuben/Jahr käme man in Deutschland (80 Millionen Einwohner) überschlägig auf 4 Tonnen Fluoride, die via Zahnpasta „entsorgt“ (und dann aber natürlich auch wieder dem Wasserkreislauf zugeführt) würden. Tatsächlich stammen die in der Zahnpasten-Herstellung benötigten Fluoride – wie das gesamte Grundmaterial der Fluor-Wirtschaft – aus dem tagebauartigen Abbau von jährlich 4,5 Millionen Tonnen Calciumfluorid (CaF2) in den Bergwerken Mexikos, Chinas und der USA.

Das richtige Maß

Im Allgemeinen ist die Fluorid-Gesamtaufnahme aus Lebensmitteln (z.B. aus Mineralwasser, Schwarztee, Fisch) in Deutschland sehr gering und beträgt bei Erwachsenen etwa 0,4 bis 0,5 mg pro Tag. Erwachsene liegen bei einer derzeit offiziell empfohlenen Tagesdosis von 3-4mg/Tag also außerhalb eines Risikos für die Gesundheit. Anders sieht dies bei Kleinkindern aus, um die ja auch der Streit der Pädiater mit den Zahnärzten geführt wird. Die vermutete optimale Wirkung zur Kariesprophylaxe ist bei Kindern bereits sehr nahe der Dosis, bei der – als Flecken auf dem Zahnschmelz deutlich sichtbar – Dentalfluorosen entstehen können (ob es weitere Nebenwirkungen geben kann, ist strittig).Fotolia 89949398 S

Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) gibt wie das Bundesinstitut für Risikobewertung eine zur Kariesprophylaxe benötigte Fluoridaufnahme von 0,05 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag an. Bei einer Dosis von 0,08 bis 0,12 mg Fluorid pro Kilogramm Körpergewicht entwickeln allerdings einige Kinder bereits eine mäßige Dentalfluorose der bleibenden Zähne. Daher begrenzt man bei Kindern die tägliche Höchstaufnahme auf 0,1 mg/kg Körpergewicht. Das heißt jedoch: Die empfohlene Dosis liegt bereits im Bereich einer möglichen Fluorose. Die für die Ausbildung einer Fluorose hinreichende Menge wird bei einem Baby von 4-10kg Körpergewicht schon mit der mancherorts noch rezeptierten täglichen Tablette (0,25 mg) erreicht. Vollkommen sinnfrei wird diese Empfehlung vor allem dadurch, dass die Babys in diesem Alter noch zahnlos sind – und es also auch nichts zu schützen gibt! Die Idee, dass man durch das Fluorid der Tabletten die Zahnbildung kräftigen könnte (weshalb man ja auch Schwangeren die Einnahme der Tabletten empfahl), ist inzwischen international widerspruchsfrei aufgegeben worden.

Das Ende vom Lied – die deutsche Wiedervereinigung

Als Karl-Marx-Stadt im Zuge der deutschen Wiedervereinigung 1990 wieder in Chemnitz umbenannt wurde, kam Sachsen schon einmal eine entscheidende Rolle in der Frage der Fluoridierungs-Debatte zu. Die städtische Trinkwasser-Fluoridierung von Chemnitz und Plauen musste mit der Übernahme westdeutscher Gesetzesvorschriften eingestellt werden, da die Trinkwasserverordnung der Bundesrepublik Deutschland keinerlei chemische Zusätze in der staatlichen Wasserversorgung duldete. Der nun von vielen mit der Trinkwasserfluoridierung befassten Kariesforschern erwartete Feldversuch im großen Maßstab misslang gründlich, da der erwartete Anstieg der Kariesausbreitung nicht nur ausblieb, sondern der gegenteilige Effekt eintrat: Die Karies ging zurück! Zusammen mit vielen weiteren Forschungsergebnissen ist dieser augenfällige Beweis des Versagens der systemischen Fluoridierung die Begründung für den Paradigmenwechsel in der Zahnheilkunde: Das Festhalten an systemischen Maßnahmen wie der Trinkwasserfluoridierung („Modellprojekt Basel“: eingestellt im Jahre 2003) und die Gabe von Fluorid-Tabletten ist heute überholt. Das United States National Research Council bringt es 2006 lapidar (und im Geburtsland der Trinkwasserfluoridierung, den USA, geradezu revolutionär) auf den Punkt: „The recommended Maximum Contaminant Level Goal (MCLG) for fluoride in drinking water should be zero“, der empfohlene maximale Gehalt von Fluoriden im Trinkwasser sollte Null sein.

Therapeutische Konsequenzen

Der Rückgang der Karies trotz der Einstellung der systemischen Trinkwasserfluoridierung wird rückblickend in den Zusammenhang mit der zeitgleichen Ausbreitung fluoridhaltiger Mundpflegemittel im Gebiet der ehemaligen DDR gestellt. Die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde sieht folglich keine Notwendigkeit einer Fluoridzufuhr jedweder Art vor dem Durchbruch der ersten Milchzähne, empfiehlt danach eine fluoridreduzierte Kinderzahnpasta in minimaler (reiskorngroßer, filmartiger!) Menge und das Putzen unter Aufsicht – und ab dem Schulalter (Durchbruch der bleibenden Zähne) den Umstieg auf eine Erwachsenen-Zahncreme. Weitere Empfehlungen sind individueller Natur und richten sich nach den durch individuelle Resistenz, Ernährungsverhalten und Mundhygienestatus gegebenen Verhältnissen1.

Soll man nun diesen zahnärztlichen Empfehlungen folgen?

In einer ideologie-befreiten Diskussion können wir heute feststellen, dass die lokale Fluoridierung international befürwortet wird. Die systemische Fluoridierung ist auf dem Rückzug, eine Vitamin D-Prophylaxe gibt es auch fluoridfrei. Braucht man denn überhaupt Fluoride? Auch hier haben die Studien gezeigt, dass Fluoride keine lebensnotwendigen Nahrungsbestandteile („essentielle Spurenelemente“) sind. Ebenso wenig ist Karies eine „Fluor-Mangel-Krankheit“.

Nach derzeitigem Wissensstand kommen Fluoride in lokalen Maßnahmen also ausschließlich dann zum Einsatz, wenn

– die Ernährung unnatürlich viel niedrigmolekularen Zucker enthält und
– dieser Umstand nicht durch eine vorbildliche Mundhygiene ausgeglichen wird.

Wer seine Ernährung frei von Zucker und Zuckerzusätzen in Lebensmitteln hält (also seine Nahrung aus natürlichen Zutaten selbst herstellt und kocht) und überdies seine Zähne wirklich entsprechend der Empfehlungen putzt (inclusive Zwischenraumpflege!), für den ist dieser Artikel weitestgehend uninteressant, der braucht sich vor Karies kaum zu fürchten. Eine einseitige Fluoridprophylaxe hingegen verschiebt das Problem schlechter Zähne auf einen späteren Zeitpunkt: Wenn zum Beispiel eine Tablettenfluoridierung die Einübung einer angemessenen Mundhygiene (und eine naturgemäße Ernährung) ersetzt, endet ihr Effekt mit dem Absetzen der Tabletten und spätestens mit dem Auftreten von Zahnfleisch-Erkrankungen, die in der zweiten Lebenshälfte die Karies an gebißgefährdender Bedeutung überholen.

So sehr wir der gesunden Ernährung das Wort reden – die Erfahrung zeigt, dass heute auch eine gesundheitsbewusste und „vollwertige“ Ernährung meist in karieserregender Weise Zucker enthält.  Und so sehr wir Zahnärzte uns täglich um eine vernünftige Mundhygiene bemühen – die Erfahrung zeigt, dass nachts alle Katzen grau sind und gefühlte drei Minuten Zähneputzen in Wirklichkeit auf weniger als eine Minute zusammenschrumpfen, von einer plangemäßen Zwischenraumpflege der Zähne ganz zu schweigen!

„Alles ist richtig, auch das Gegenteil.
Nur „zwar … aber“, das ist nie richtig.“

Kurt Tucholsky, „Die Weltbühne“, 24. September 1929

 

Ziel dieses Artikels war es, einen Überblick zu geben, warum es in der Fluorid-Frage so viele verschiedene Meinungen gibt – und warum sich heute letztlich viel leichter als früher eine angstfreie und angemessene Antwort finden lässt auf die Frage, ob man Fluoride anwenden möchte und wenn, in welcher Form. Wie bei vielen Grundsatzentscheidungen (vegan – nicht vegan, schulmedizinisch – komplementärmedizinisch) gibt es am Ende nur eine individuelle Entscheidung, die sich in der individuellen Freiheit und Verantwortung des Einzelnen begründet.  In diesem Sinne soll die Frage der Titelzeile in diesem Artikel auch nicht glasklar beantwortet werden: So weit liegen die Positionen ja seit der Konferenz in Sachsen 2015 gar nicht mehr auseinander! Es sollen aus der fast unüberschaubaren Fülle des vorliegenden und nicht immer seriösen Materials lediglich die Informationen bereitgestellt werden, die zu einer eigenen fundierten Einschätzung beitragen können. In Absprache mit dem behandelnden Kinderarzt und Zahnarzt können die vorliegenden Empfehlungen dann befolgt, an persönliche Erfordernisse angepasst oder durch zusätzliche Schutzmaßnahmen ergänzt werden. In einer anthroposophisch orientierten (Zahn)Medizin können zum Beispiel Aesculus-Präparate (Urtinktur aus der Roß-Kastanie) Anwendung finden und – gegebenenfalls und individuell – konstitutionsabhängige Unterstützungsmaßnahmen.

Von den weiteren Möglichkeiten der Kariesprophylaxe sei hier nur an den sehr erfolgreich möglichen Einsatz von Xylit erinnert, eine Alternative zum Haushaltszucker (Sacharose), der letztlich nur aus wirtschaftlichen Gründen ein Schattendasein im Bereich der möglichen Alternativen zur Zahnkaries-Spätbehandlung führt.

Die Gleichgültigkeit gegenüber Zahnschäden und ihrer (Spät-)Behandlung hat im Generationenwandel der letzten Jahrzehnte bei Eltern, Patienten und Zahnärzten eine spürbare Wendung genommen. So wenig ein Lepra-Arzt angesehen wäre, wenn seine Tätigkeit ausschließlich den als unausweichlich hingenommenen Verlust von Körpergewebe durch Pflaster, Verbände, kleine Prothesen, Krücken und Rollstühle kompensieren würde (und sei es noch so kunstvoll!), so wenig sollte sich der Arzt im Kampf gegen die Zahnfäule auf diese Art Kunst beschränken. Die Zahnärzte haben in den letzten Jahrzehnten diesen Bewusstseinswandel hin zur Prophylaxe weitgehend vollzogen. Sie freuen sich über Partner unter ärztlichen Kollegen und Patienten, die diese Erkenntnisse mit ihnen zusammen umsetzen.

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