Anthroposophie

Buchrezension: Die zwölf Sinne in der seelischen Beobachtung – eine Exkursion

"Der Mensch lernt durch seine Sinne die physische Welt als Sphäre sinnlicher Erscheinungen kennen. Um dieses Sinnesverhältnis phänomenologisch zu beschreiben, lassen die Autoren die Sinneswahrnehmung unberührt, um sie unvoreingenommen als ein Gegebenes hinzunehmen. Die physische Welt wird nicht derart vorausgesetzt, dass in der Sinneswahrnehmung eine abbildliche Wirkung von ihr vorläge, sondern dass sie erst durch den wahrnehmenden Menschen realisiert wird. Mit dieser Ausgangssituation werden die zwölf Sinne des Menschen einer ausführlichen seelischen Beobachtung unterzogen, um erst auf diese Weise ihrem jeweiligen Wahrnehmungsfeld gerecht werden zu können."

Einführung
Soweit die Buchbeschreibung des Verlags. Was erwartet den Leser bei dieser Schrift? Er begibt sich tatsächlich auf eine Exkursion, und merkt bald, dass eine gehörige Portion Eigenaktivität dazu notwendig ist. Zunächst werden wir aber von den Autoren sehr einladend herangeführt. Wir bekommen eine Art Reiseführer auf Basis der Notizbücher Rudolf Steiners an die Hand und erfahren, wie sich durch verschiedene biographische Etappen die anthroposophische Sinneswissenschaft entwickelt hat.

Die Exkursion
Das Abenteuer beginnt mit einem Blindversuch zum Sinn des Sehens mit dem schönen Titel “Der Sinne Leuchtewesen” durch die drei Bereiche

  • Reinigung: Farbe
  • Erleuchtung: Licht
  • Einweihung: Glanz

Spätestens hier fällt die Entscheidung, entweder selber in Wahrnehmungsprozesse einzutauchen oder – das Buch wegzulegen. Das ist nur folgerichtig, wenn man den erkenntnistheoretischen Ansatz Rudolf Steiners ernsthaft verfolgt. Die Fähigkeit des unvoreingenommenen Sich-Einlassens kann erübt werden; sich in den Wahrnehmungsvorgang hineinzubegeben und zugleich Erkenntniswerkzeuge auszubilden zeigt sich als “gangbare” Methode. Goethes Wort “Die Sinne trügen nicht – das Urteil trügt” wird zur Aufforderung, unverfälschte Wirklichkeit aufzuspüren.

“Berufung auf die Erfahrung des einzelnen Lesers
Im so betitelten Kapitel aus den “Grundlinien einer Erkenntnistheorie” (1886), schreibt Rudolf Steiner: Von einem gedanklichen Irrtum kann … am Anfange unserer Ausführungen nicht die Rede sein.*) Ein kühn anmutender Satz, doch zugleich genial einfach, so lange man in der “reinen Wahrnehmung” bleibt. Damit ist die Form der Wahrnehmung gemeint, die deshalb ungetrübt ist, weils sie sich jedes Urteils enthält.

Die Autoren Hans-Christian Zehnter und Dietrich Rapp verfolgen diesen Ansatz konsequent, indem sie ihn auf die zwölf Sinne anwenden, die Rudolf Steiner selbst erst 1909 beschrieb**). Die Sinne werden, einer nach dem anderen, Inhalt der seelischen Beobachtung. Es ist der Duktus des ganzen Buches, den Leser methodisch sicher und doch mit großer Sinnesfreude auf eine Entdeckungsreise mitzunehmen und ihn seine Wahrnehmungsorgane – und damit auch die Welt – neu entdecken zu lassen.

Tom Singer-Carpenter

*) Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller, zugleich eine Zugabe zu "Goethes Naturwissenschaftliche Schriften" in Kürschners "Deutsche National-Litteratur" 1886 (GA 2)
**) Rudolf Steiner: Anthroposophie (GA 115) Vortrag vom 23.10.1909

Die zwölf Sinne in der seelischen Beobachtung – eine Exkursion
Edition Anblick
von Hans-Christian Zehnter und Dietrich Rapp, Taschenbuch, 23,00 €

anthronet empfiehlt den Lesern einen Besuch der Rudolf Steiner Buchhandlung für Anthroposophie, die Ihnen Bücher auch gerne schnell und unkompliziert zuschickt.