Gesundheit

„Zähne zusammenbeißen – und durch!“

Zahnschmerzen müssen nicht immer auf ein „Loch im Zahn“ hinweisen. Gerade solche, die nicht genau zu verorten sind – mal oben, mal unten, dann auch wieder mal nicht, vor allem Reaktionen auf „kalt“ – sind oft ein erster Hinweis darauf, dass die Zähne nachts übermäßig fest zusammengebissen werden oder knirschen: „Bruxismus“ nennt die Zahnmedizin dieses Phänomen. Zahnärztinnen und Zahnärzte stellen diese Diagnose oft im Ausschlussverfahren nach einer genaueren Untersuchung – oder durch Hinweise auf eine Überlastung des Patienten: „Stress“ ist die häufigste Antwort auf die Frage nach den Ursachen für den Bruxismus.

Genauer betrachtet gibt es natürlich verschiedene Formen von „Stress“ – ein normales Leben bedeutet zumindest gelegentlich ein gewisses Maß an Herausforderungen! Werden diese in ihrer Art oder Häufigkeit zu groß, sprechen wir von „Disstress“, einer negativen, belastenden Form von Stress: einer Überforderung. Menschen mit viel negativem Stress haben laut wissenschaftlichen Untersuchungen ein fünfmal größeres Risiko für den Bruxismus als unbelastete: „Zähne zusammenbeißen – und durch!“, sagt der Volksmund. Vom „Notausgang im Fall der Überlastung“ spricht der Wiener Professor Rudolf Slavicek, dem wir grundlegende Forschungen über das Kauorgan verdanken (1). „An einem Problem herumkauen“ ist der frustrane Versuch, der Lage am Ende doch noch Herr zu werden, sich durch das Problem „hindurchzubeißen“, wie wir es literarisch beschreiben:

Ode to bruxism
I don ́t believe that worn-down teeth
Is caused by chewing bread and meat,
But rather comes from state of mind
In persons of the bruxic kind
Who, with a worn and troubled head
Take all their problems off to bed
And rather than attempt to treat them,
They literally try to eat them.

(Leidulf Hafsmo, Zahnarzt und Poet)

Die Probleme mit in die Nacht zu nehmen, deutet darauf hin, dass sich ein Mensch mit seiner beruflichen oder privaten Situation momentan überfordert sieht: unabhängig davon, ob er – objektiv gesehen – davon tatsächlich überfordert ist. Unser nachts im Unbewussten wirkendes Ich bewegt die Situation dann weiter, so das Lösungen und andere Sichten auf dasselbe Problem oft nach einer durchschlafenen Nacht gefunden werden. (2)

Manchmal jedoch verselbständigen sich diese Prozesse: Wir „beißen uns fest“. Unsere (gefühlte) „Bewältigungskompetenz“ reicht zunächst nicht aus, um das Problem zu lösen: Pressen oder knirschen tun also in erster Linie diejenigen, die sich den an sie gestellten Anforderungen und Belastungen – vorübergehend oder dauerhaft – nicht gewachsen fühlen.

Wir gehen dann erst einmal nicht in die Auseinandersetzung mit der Welt, sondern richten in unserer momentanen Ohnmacht unsere Energie nach innen. Da sich diese Energie sonst oft als Aggression zeigen würde, ist diese Reaktion sozial oft durchaus von Vorteil: Nicht jeder kann es sich aus sozialer Sicht jederzeit leisten, Überforderungen einfach abzustellen! Manchmal lösen sich solche Stress-Situationen und Konflikte mit der Zeit von alleine wieder auf; manchmal gelingt es uns auch nach einiger Zeit, Lösungen herbeizuführen. Andernfalls richtet sich die Energie dauerhaft nach innen und kann sich am Ende verselbständigen, zur „Autoaggression“ werden.  Man spricht dann von chronischem nächtlichen Bruxismus (3).

Eine Beiss-Schiene aus Kunststoff, die der Zahnarzt anpasst, ist dann – vorübergehend oder dauerhaft –  oft eine Erleichterung für die Patienten: Schmerzen oder die durch den autoaggressiven Prozess verursachte übermäßige Abnutzung der Zahnreihen können so vermindert oder sogar verhindert werden. Während Aufbiss-Schienen vor dreissig Jahren, zu Beginn meiner beruflichen Tätigkeit als Zahnarzt, eher eine Ausnahme waren, sehen wir uns mit diesem Thema seitdem in stetig zunehmender Weise konfrontiert. Und es ist wohl auch kein Zufall, dass wir in unserer Praxis noch nie so viele Schienen angefertigt haben wie im Corona-Jahr 2020: Nicht alle Probleme lassen sich durch „Lockerlassen“ lösen. Entspannung ist gut und gehört zur Begleit-Behandlung bei der Schienentherapie dazu. Aber manchmal müssen wir uns eben auch anspannen: es macht uns zuverlässig.

Wo es nicht um konkrete Überforderungs-Situationen (und Anspannung als Weg zur Lösung dieser Situation) geht, sondern um ein allgemeines „Ohnmacht-Gefühl“, wie es die derzeitige gesellschaftliche Situation besonders bei aufgeweckten und an der Entwicklung der Welt interessierten Zeitgenossen auslöst, hilft vielleicht die Rückbesinnung auf die Meditation, auf die den Anthroposophen bekannten „Nebenübungen“ oder das sogenannte und viel zitierte „Ergebenheitsgedicht“, das aus einer Zusammenstellung von Zitaten Steiners entstanden ist. Welche Aufgabe stellt diese Zeit an uns, täglich, ganz konkret? Wie können wir unser individuelles Mensch-Sein gerade JETZT unter Beweis stellen? „Stündlich“, mahnt Rudolf Steiner, „versuche der Mensch der Gegenwart die Verantwortung für sein Leben an andere zu delegieren“(4) – ein Vorgang, der derzeit täglich in sattsamer Weise beobachtet werden kann. „Ganz Mensch“ werden wir hingegen nur, wenn wir die Verantwortung für unser Schicksal – in jeder Situation – vollständig selbst übernehmen. Insofern ist auch die derzeitige Krise ein Weckruf zur Entwicklung und Überwindung, zu einer Rückbesinnung auf uns selbst und auf unsere Aufgabe (5).

(Dr. Rudolf Völker, Zahnarzt, Hamburg)

Um zu den Kontaktdaten der Praxis zu gelangen klicken Sie bitte hier…

Weiterführende Literatur:

1) Slavicek R., Sato S.:Bruxismus als Stressbewältigungsfunktion des Kauorgans. Wien Med Wochenschrift 2004;154: 584–589

2) Husemann F.:Die Ich-Organisation. In: Das Bild des Menschen als Grundlage der Heilkunst. Entwurf einer geistes-wissenschaftlich orientiertenMedizin. Band 1. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, 1951)

3) Völker R: Bruxismus – dentale Selbstzerstörung durch Überlastung. Der Merkurstab 2015; 68(2):107-111.

4) Steiner R.: Die Geheimnisse der Schwelle. Ein Vortragszyklus, gehalten in München vom 24. bis 31. August 1913, GA 147

5) Florschütz, T.: Die Corona-Krise – ein Schwellenerlebnis? Hinweis März 2021; 7-17